Rechtsanwaltskanzlei Dr. Tatár László

Dr. Tatár László Rechtsanwalt, Fachjurist für Europarecht

Tatár László

Die Anwendung der Bayes-Analyse im Strafprozess

 

(In: Emlékkönyv Vargha László egyetemi tanár születésének 90. évfordulójára, szerk: Fenyvesi Csaba, Herke Csongor, PTE ÁJK, Pécs 2003. Seite 251-258.)

Die Beschaffung und Bewertung der Beweismittel sind beständige Probleme der strafrechtlichen Wissenschaft [1]. Das Problem ergibt sich erstens daraus, dass für die Straffälle der Mangel an Beweismittel typisch ist. Es ist verständlich, wenn der Rechtsanwender bestrebt ist, die vorhandenen wenigen Beweismittel am effizientesten zu verwenden. Die andere Seite des Problems besteht darin, dass der Rechtsanwender bei der Bewertung der Beweismittel Schlussfolgerungen ableitet, aufgrund welchen Schlussfolgerungen er den Tatbestand bestimmt. Wann kann es so betrachtet werden, dass genügende Beweismittel zur Verfügung stehen, bzw. wie, mit welcher Methode die bewertet werden sollen? Je effizienteste die Methode der Bewertung ist, desto wahrscheinlicher ist, dass der wahre Tatbestand bestimmt wird. Aber gibt es überhaupt eine solche einheitliche Methode, die unfehlbar zur Feststellung des wahren Tatbestandes, bzw. zur Ableitung der richtigen Schlussfolgerungen führt? In der ausländischen Rechtsliteratur und Rechtsanwendung gelang eine Methode [2] in das Ziel einer heftigen Debatte. Diese Methode setzt die Beweise in eine mathematische Formel ein, und bestimmt aufgrund dessen den Beweiswert.

Der Ursprung der Methode reicht bis ins XVIII. Jahrhundert zurück. Die Arbeit von Thomas Bayes (1702-1761) – englischer Priester, Mathematiker -, die sich mit der Wahrscheinlichkeitstheorie beschäftigte, wurde nach seinem Tod von einem seiner Freunde unter seinen Papieren gefunden und der Royal Society of London geschickt, wo die Arbeit veröffentlicht wurde [3]. Das Ziel von Bayes war eine Methode auszuarbeiten, mit dem die Wahrscheinlichkeit des Vorkommens eines Geschehnisses unter gegebenen Umständen bestimmt werden kann, von welchem Geschehnis wir nichts anderes wissen, nur dass es unter den selben Umständen bisher wie viel mal vorgekommen, und wie viel mal weggeblieben ist. Bayes hat eine Formel geschaffen, welche im mathematischen Zusammenhang die Geschehnisse darstellt, und die einen Zahlwert für die Wahrscheinlichkeit des Vorkommens des Geschehnisses gibt. Die als Bayes-Analyse bekannte Methode wird auf vielen Wissenschaftsgebieten angewendet.

Im Strafverfahren kann die Bayes-Analyse vor allem bei der Bewertung der indirekten Beweise eine wichtige Rolle spielen. Die Analyse gibt nach der Bearbeitung von mehreren Wahrscheinlichkeitsinformationen eine Antwort darauf, wie sich die Anfangswahrscheinlichkeit des Bestehens einer Tatsache (die Schuld des Beschuldigten) beim Bestehen eines gegebenen Umstands (Indiz) verändert. Es zeigt also, ob der gegebene indirekte Beweis die Wahrscheinlichkeit erhöht oder vermindert, dass der Beschuldigte das Delikt begangen hat.

Die Formel ist wie folgt:

illustration 1

O = Chance

P = Wahrscheinlichkeit

G = Strafwürdigkeit

E = Beweis

nem-G = nicht schuldig

O (G ï E) = die Chance der Strafwürdigkeit des Beschuldigten aufgrund des überprüften Beweises (a posteriori Chance)

P (E ï G) = die Wahrscheinlichkeit der Entstehung des überprüften Beweises in dem Fall, wenn der Beschuldigte schuldig ist

P (E ï nicht-G) = die Wahrscheinlichkeit der Entstehung des überprüften Beweises in dem Fall, wenn der Beschuldigte nicht schuldig ist

O(G) = die Chance der Strafwürdigkeit des Beschuldigten vor der Überprüfung des Beweises (a priori Chance)

 

Die Wahrscheinlichkeit ist der rationale Grad der Überzeugung über die Richtigkeit der auf der Information (auf dem Beweis) beruhenden Aussage. Die Aussage ist in sich entweder richtig oder falsch, aber wir sind nicht sicher, ob die richtig oder falsch ist. Der Wert jeder Wahrscheinlichkeit hängt von den, bei der Einschätzung zugrunde gelegten, Informationen und Präsumtion [4] . Bei der Anwendung der Formel fällt der Wert der Wahrscheinlichkeit immer zwischen 0 und 1. Wenn der Wert der Wahrscheinlichkeit 0 ist, das bedeutet, dass die Aussage – mit voller Sicherheit – unmöglich, falsch ist. Wenn der Wert der Wahrscheinlichkeit 1 ist, dann ist die Aussage – mit voller Sicherheit – richtig. Der Wert der Wahrscheinlichkeit fällt in den meisten Fällen zwischen diese zwei Werte. (In Prozenten ausgedrückt ist bei dem Wahrscheinlichkeitswert 0 die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit der Aussage 0 %, und wenn der Wert der Wahrscheinlichkeit 1 ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit der Aussage 100 %.) Wenn der Wert der Wahrscheinlichkeit 0,5 ist, dann betrachten wir die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit der Aussage gleichgroß wie die Wahrscheinlichkeit, dass die Aussage falsch ist. (In Prozenten ausgedrückt ist die Wahrscheinlichkeit 50 %.)

Die Chance gibt die Antwort auf die von uns eigentlich untersuchten Frage. Die Frage im Strafprozess, die wir mit der Bayes-Analyse untersuchen, ist: Wie groß ist die Chance, dass der Beschuldigte schuldig ist? Die Formel entscheidet aber nicht über die Strafwürdigkeit des Beschuldigten, die zeigt nur, ob – und welchermaßen - der überprüfte Beweis die Chance der Strafwürdigkeit des Beschuldigten erhöht oder vermindert. Dazu brauchen wir aber den Wert der sogenannten a priori Chance. Den müssen wir bestimmen. Wir müssen also die nicht numerischen Tatsachen, bzw. die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen in Nummern aufschreiben. Die Bestimmung der a priori Chance beeinflusst grundsätzlich das später erhaltene Endergebnis (a posteriori Chance). Die Bestimmung der a priori Chance ist der kritische Teil der Anwendung der Bayes-Analyse. Wenn wir hier einen Fehler machen, dann werden wir auch für die a posteriori Chance nicht den richtigen Wert bekommen.

Grundsätzlich rechnet also die Analyse aus, wie sich die Chance der Strafwürdigkeit des Beschuldigten vor der Überprüfung, Berücksichtigung des Beweises durch die Berücksichtigung des Beweises verändert. Aufgrund dem Wert der a posteriori Chance [ O (G ï E) ] ist die Chance der Richtigkeit der mit der Analyse überprüften Aussage so groß, wie sich die a posteriori Chance zu 1 verhält. Wenn der Wert der a posteriori Chance 1 ist, dann ist die Chance der Strafwürdigkeit des Beschuldigten genausogroß, wie die Chance seiner Unschuld (1:1, in Prozenten ausgedrückt ist die Chance der Strafwürdigkeit des Beschuldigten 50 %). Wenn der Wert der a posteriori Chance unter 1 liegt, dann ist die Chance der Unschuld des Beschuldigten größer, als die Chance seiner Strafwürdigkeit (z. B. 0,75:1 [5] , anderswie ausgedrückt 3:4 [6] , in Prozenten ausgedrückt ist die Strafwürdigkeit des beschuldigten 42,9 %). Wenn der Wert der a posteriori Chance über 1 liegt, dann ist die Chance der Strafwürdigkeit des Beschuldigten größer, als seiner Unschuld (z. B. 2:1, in Prozenten ausgedrückt ist die Chance der Strafwürdigkeit des Beschuldigten 66,7 %).

Es ist sehr wichtig, dass die Wahrscheinlichkeit und die Chance nicht verwechselt werden! Der Wert der Wahrscheinlichkeit liegt immer zwischen 0 und 1, bis der Wert der Chance 0 und jede davon größere Zahl sein kann (je größer der Wert der Chance ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit der von der Bayes-Analyse überprüften Aussage). Mathematisch stehen die Chance und die Wahrscheinlichkeit in folgendem Verhältnis miteinander:

illustration 2

Bei einem Mordfall in Auckland hat sich der Täter geschnitten, wodurch er Blutspuren am Tatort gelassen hat. Im Strafprozess [7] wegen diesem Verbrechen in Neu-Seeland hat sich der Experte, der die Blutüberreste mit der DNS-Analyse geprüft hat, so geäußert, dass die Wahrscheinlichkeit davon, dass die am Tatort gefundene Blutüberreste vom Angeschuldigten stammen 12450 mal größer ist, als dass die von einer anderen Person stammen. Anderswie ausgedrückt verfügt eine Person aus 12450 Menschen über das überprüfte DNS-Profil. Der Experte hat damit das Wahrscheinlichkeitsverhältnis (likelihood ratio) des Beweises (des Gutachtens) angegeben:

 

illustration 3

Dieses Wahrscheinlichkeitsverhältnis zeigt, was für eine Wirkung der Beweis auf die Strafwürdigkeit des Beschuldigten ausübt. Dieser Wert ist mit der a priori Chance [O (G) ] zu multiplizieren um die a posteriori Chance [O (G ïE) ] zu bekommen. Je mehr das Wahrscheinlichkeitsverhältnis von 1 – in irgendwelche Richtung - abweicht, desto größer die Wirkung des Beweises bei der Entscheidung über die Strafwürdigkeit des Beschuldigten sein wird. In dem Fall aber, wenn der Wert des Wahrscheinlichkeitsverhältnisses 1 ist, oder von 1 nicht bedeutend abweicht, dann hat der Beweis keine Wirkung auf das Ergebnis der Beweisaufnahme, oder der hat nur eine sehr geringe Wirkung.

In den angelsächsischen Rechtssystemen werden solche Beweise – die ein Wahrscheinlichkeitsverhältnis von 1 oder von einem Wert nah zu 1 produzieren – als nicht relevante Beweise betrachtet, und als solche sind sie ausgeschlossene Beweise [8] . Der Zweck des Ausschlusses der Beweise ist hier, dass der Beweis die Geschworenen bei der Entscheidung über die Strafwürdigkeit nicht irreführt. Das Gericht lässt in diesen Fällen nicht zu, dass der Beweis den geschworenen vorgezeigt wird, oder wenn das bereits geschehen ist, dann unterweist das Gericht die Geschworenen den nicht relevanten Beweis bei der Entscheidung außer Acht zu lassen. Es ist auch nicht selten, dass die Gerichte die Beweise, die ein Wahrscheinlichkeitsverhältnis von unter 100 produzieren, als völlig nutzlose betrachten [9] .

Zurück zu unserem Beispiel! Dazu, dass die Bayes-Formel vollständig wird, brauchen wir noch die a priori Chance der Strafwürdigkeit des Beschuldigten [ O (G) ] . Diese Chance müssen wir mit Nummern aufschreiben. Unter Berücksichtigung, dass die Bevölkerung von Auckland ca. 1.000.000 Personen ausmacht, betrachten wir die a priori Chance der Strafwürdigkeit des Beschuldigten 1:999.999 [10]. Laut der a priori Chance ist 1 Person schuldig und 999.999 Personen sind nicht schuldig [11] . (Es ist gut zu sehen, dass die Bestimmung der a priori Chance nicht völlig objektiv ist, da der Täter muss nicht unbedingt ein Bewohner von Auckland gewesen sein – aber da wir noch keine anderen Beweise in dieser Angelegenheit überprüft haben und deshalb wir keine weiteren Informationen haben, gehen wir aus dieser Verhältniszahl aus.) Die Zahlen in die Bayes-Formel eingesetzt:

illustration 4

Aufgrund der DNS-Analyse wuchs die – von uns bestimmte - a priori Chance der Strafwürdigkeit des Beschuldigten bedeutend (von 0,000099 % auf 1,230 % [12]), aber so beträgt die Chance dafür, dass der Angeschuldigte das Verbrechen begangen hat, nur 1,230 %.

In uns als Beispiel dienenden Fall gab es auch Beweise dafür, dass der Täter aus einer 5-köpfiger Gesellschaft stammte. Der Beschuldigte war auch Mitglied dieser Gesellschaft. Aufgrund dieser Beweise – angenommen dass diese Beweise den Kreis der möglichen Täter unangefochten herabsenken – ist die a priori Chance dafür, dass der Beschuldigte der Täter ist, viel größer, genau 1:4 [13] , in Prozenten ausgedrückt 20 %. Sehen wir die Wirkung des Gutachtens auf diese a priori Chance [14]:

illustration 5

Die a posteriori Chance der Strafwürdigkeit des Beschuldigten ist 3112,5:1, in Prozenten ausgedrückt 99,968 % [15] . Hier haben wir auch nichts Anderes gemacht, als in dem ersten Fall – wo die Strafwürdigkeit des Beschuldigten am Ende 1,2 % war -, wir haben ausgerechnet was für eine Wirkung das Gutachten auf die Strafwürdigkeit des Beschuldigten ausübt. Den Unterschied gab es allein in der Höhe der a priori Chance. Es ist gut zu sehen, wie große Bedeutung die richtige Bestimmung der a priori Chance hat. Meiner Meinung nach ist das der kritische Punkt der Anwendung der Bayes-Analyse im Strafverfahren. Wenn wir hier einen falschen Wert angeben, dann wird auch das Endergebnis nicht richtig werden.

In einem anderen Fall [16] hat der Eigentümer drei Einbrecher auf frischer Tat ertappt, es kam zu Kampfgetümmel, während dem ein Einbrecher den Eigentümer niederschlug. Der Einbrecher, der den Eigentümer niederschlug, wurde leicht verletzt und er hat Blutspuren am Tatort hinterlassen. Auf der Flucht hat die Polizei einen Einbrecher gefangengenommen. Die Blutgruppe der am Tatort gefundenen Blutüberreste ist B. Die Blutgruppe des gefangengenommenen Einbrechers ist ebenfalls B. Wie groß ist die Chance aufgrund der zur Verfügung stehenden Beweise, dass der gefangengenommene Einbrecher den Eigentümer niedergeschlagen hat? Zur Rechnung benutzen wir die Angabe, wonach 13 % der Bevölkerung Blutgruppe B haben. Als Täter der Handlung kommen 3 Personen in Anschlag: die 3 Einbrecher. Die a priori Chance davon, dass der gefangengenommene Einbrecher den Eigentümer niedergeschlagen hat, ist 1:2, also 0,5 (33,3 %). Die Wahrscheinlichkeit der Entstehung der Blutspur bei Unschuld des Beschuldigten ist 0,13.

illustration 6

Als Ergebnis der Blutuntersuchung ist bereits 3,84615:1 (also 79,36 %) [17] die Chance dafür, dass der gefangengenommene Einbrecher den Eigentümer niederschlug. Die a priori Chance (33,3 %) hat sich zufolge des Gutachtens bezüglich der Blutuntersuchung bedeutend erhöht.

Wie auch die obigen Beispiele sich auf die Bewertung des Gutachtens im Strafprozess beziehen, kann das Hauptgebiet der Anwendung der Bayes-Analyse im Strafprozess die Bewertung der Gutachten sein. Die obigen Beispiele zeigen sehr gut, dass die Richtigkeit der durch die Bayes-Analyse erhaltenen a posteriori Chance in großem Maße abhängig von den Ausgangsdaten ist.

Zur Rechnung müssen wir zweierlei Werte bestimmen. Einerseits das Wahrscheinlichkeitsverhältnis (likelihood ratio), andererseits die a priori Chance der Strafwürdigkeit des Beschuldigten. Die Bestimmung des Wahrscheinlichkeitsverhältnisses ist die Aufgabe des Sachverständigen, aber die Bestimmung der a priori Chance und mit der Anwendung der Formel – durch Aufnutzung des vom Sachverständigen angegebenen Wahrscheinlichkeitsverhältnisses – der a posteriori Chance ist die Aufgabe des Gerichts. Der Vorteil des Denkansatzes Bayes ist, dass der beim Ordnen der Beweise hilft [18].

Die Bayes-Analyse, als Methode der Untersuchung und Bewertung der Beweise kann sehr nützlich sein, da die einen objektiven Beurteilungsmaßstab zur Bewertung der Beweise bietet, das ist die Bayes-Formel. Es darf aber diese Methode nicht überschätzt werden, da die nicht die allein richtige Lösung für die Bewertung aller Beweise, bzw. unter allen Umständen sein kann. Ihr großer Vorteil ist, dass sie den Rechtsanwender – letztendlich dem Gericht, das über die Strafwürdigkeit des Beschuldigten entscheidet – hilft aus den zur Verfügung stehenden Beweisen richtige Schlussfolgerungen abzuziehen. Die Analyse zeigt nämlich, wie groß die mathematische Wahrscheinlichkeit der Strafwürdigkeit des Beschuldigten aufgrund des gegebenen Beweises ist. In unserem Land entscheidet aber das Gericht im Strafverfahren die Frage der Strafwürdigkeit des Beschuldigten nicht aufgrund der mathematischen Wahrscheinlichkeit, sondern aufgrund der begründeten Überzeugung [19] . Es erfordert die Überzeugung des Richters zu der Verurteilung des Beschuldigten darüber, dass der Beschuldigte die ihm vorgeworfene Tat begangen hat. Die Überzeugung ist ein geistlich-psychischer Zustand, und der Kreis der Daten, Informationen, die im konkreten Fall die selbe Überzeugung erzeugen, kann bei jeder Person anders sein. Genau deshalb ist die Begründung der Überzeugung erforderlich, so wird nämlich überprüfbar, ob bei der Gestaltung der Überzeugung das Gericht die entsprechenden Umstände bewertet hat und die mit entsprechendem Gewicht berücksichtigt hat.

Die mathematische Wahrscheinlichkeit wird uns die unerschütterliche Gewissheit nie produzieren. Prinzipiell gibt es auch diese Möglichkeit [P (E ïG) = 1] , aber durch Anwendung der Formel werden wir niemals einen solchen Wert bei der Bewertung eines Beweises bekommen. Wenn z. B. eine Sicherheitskamera die Begehung des Verbrechens aufzeichnet, und der Täter von der Aufnahme zweifelsohne zu erkennen ist, muss bei der mathematischen Wahrscheinlichkeit berücksichtigt werden, dass die Aufnahme auch gefälscht sein kann. Deshalb wird der Wert von P (E ï G) niemals 1 im Strafverfahren werden, im Beispielsfall können wir es als 0,98 bestimmen – es gibt also die mathematische Wahrscheinlichkeit der Unschuld des Beschuldigten. Die Echtheit der Videoaufnahme kann auch von Sachverständigen untersucht werden, aber diese Untersuchungen haben auch eine gewisse Fehlermöglichkeit. Also wenn die Untersuchung des Sachverständigen feststellt, dass die Aufnahme nicht gefälscht ist, dann steigt die mathematische Wahrscheinlichkeit der Strafwürdigkeit des von der Aufnahme erkennbaren Täters (es wird z. B. 0,99), aber die erreicht die 1 nicht, und wird auch niemals erreichen. Im Gegenteil dazu, wenn der Beschuldigte als der Täter des Verbrechens von der Videoaufnahme zu erkennen ist, dann ist diese Aufnahme im allgemeinen geeignet, die Überzeugung des Richters zu entwickeln. Die Überzeugung des Richters entwickelte sich also, obwohl die mathematische Wahrscheinlichkeit der Strafwürdigkeit des Beschuldigten „nur“ 99 % ist.

Wir können aber auch ein Gegenbeispiel vortragen. Nach unserem zweiten Beispiel ist die mathematische Wahrscheinlichkeit davon, dass der gefangengenommene Einbrecher das Opfer niederschlagen hat, 79 %. Also die Strafwürdigkeit des Beschuldigten hat eine bedeutend größere Wahrscheinlichkeit, als seine Unschuld. Wenn es aber gelingt, seine zwei Komplicen gefangenzunehmen, und einer von denen oder beide die Blutgruppe B haben, dann senkt sofort die mathematische Wahrscheinlichkeit davon, dass der zuerst gefangengenommene Einbrecher das Opfer niederschlagen hat.

Wie auch die Beispiele es zeigen, kann ein Kriminalfall allein mit mathematischen Methoden nicht gelöst werden. Die unerschütterliche Überzeugung des Richters kann sich auch unter der mathematischen Wahrscheinlichkeit von 100 % entwickeln – die mathematische Wahrscheinlichkeit wird die 100 % sogar nie erreichen -, aber bei einer verhältnismäßig großen mathematischen Wahrscheinlichkeit muss sich die Überzeugung des Richters auch nicht unbedingt entwickeln. Der Grund dafür ist in der Methode des Erreichens des Ergebnisses ist zu suchen. Bei dem Errechnen der mathematischen Wahrscheinlichkeit setzen wir die Ausgangsdaten in die Formel ein, und nach Durchführung der Operation bekommen wir den Wert der mathematischen Wahrscheinlichkeit. Bei der Entwicklung der Überzeugung rekonstruiert der Rechtsanwender aufgrund der zur Verfügung stehenden Beweise und Daten die Geschehnisse, und er stellt sich vor, was passiert ist. In dem Fall, wenn es bezüglich gewisser Details des Tatbestandes (z. B. wer der Täter ist) mehrere möglichen Versionen gibt (ein Anderer kann auch der Täter gewesen sein) und die vorhandenen Beweise keine Version eindeutig ausschließen, dann müssen die Beweise so lange weitergesammelt werden, bis die zur Verfügung stehenden Beweise aus den möglichen Versionen nur eine unterstützen und alles andere ausschließen (es kann nicht anderswie passiert sein).

Die mathematischen Methoden können aber sehr hilfreich bei der Bewertung der Beweise sein. Sie können – aber nur bei richtiger Anwendung [20] - helfen, aus den Beweisen die richtige Schlussfolgerungen abzuleiten. Die größte Bedeutung kann die Anwendung der Bayes-Analyse bei der Bewertung der Ergebnisse der komplexen Sachverständigenuntersuchungen haben, grundsätzlich kann man aber die Analyse bei der Bewertung von jedem Beweis anwenden.


Endnotizen:

[1] Flórián Tremmel: Magyar büntetőeljárás [Ungarisches Strafverfahren], Dialóg-Campus Kiadó, Budapest-Pécs, 2001, pp. 207.

[2] Das Gericht kann den Geschworenen verbieten, die Aussage des Expertenzeugen über die Bayes-Analyse bei der Entscheidung zu berücksichtigen. Der Grund des Ausschlusses war im Fall Adams (Adams [1996] 2 Cr.App.R. 467.) zum Beispiel, dass die Bewertung der Beweise die Aufgabe der Geschworenen ist, und die Bayes-Analyse eine solche wissenschaftliche Methode ist, welche zur Bewertung der Beweise nicht geeignet ist. So dürfen die Geschworenen die Zeugenaussage des Experten, welche die Anwendung der Bayes-Analyse erklärt, nicht berücksichtigen. ( Bernard Robertson, Tony Vignaux: Bayes' Theorem in the Court of Appeal, in: The Criminal Lawyer , January, 1997, pp 4-5., Quelle: http://www.mcs.vuw.ac.nz/~vignaux/docs/Adams_NLJ.html). Der Ausschluss von solchen Beweisen entwickelte sich in den angelsächsischen Rechtssystemen, damit die Geschworenen von den Expertenzeugen nicht „irregeführt“ werden können. In Ungarn schließt das Gesetz die Anwendung der Bayes-Analyse bei der Bewertung der Beweise im Strafprozess nicht aus.

[3] An Essay towards solving a Problem in the Doctrine of Chances, in: Philosophical Transactions of the Royal Society of London, 1764

[4] Bernard Robertson, G A Vignaux: Interpreting Evidence: Evaluating Forensic Science in the Courtroom,
John Wiley and Sons, 1995, in: http://www.mcs.vuw.ac.nz/~vignaux/evidence/interpreting.html pp. 4.

[5] Verstehe: nullkommafünfundsiebzig zu eins

[6] Verstehe: drei zu svier

[7] [ 1992 ] 1 NZLR 545 (CA)

[8] Bundesregeln der Beweisführung – USA (Federal Rules of Evidence)

Regel Nr. 401. – Die Bestimmung des „relevanten Beweises”

Der „relevante Beweis“ bedeutet einen Beweis, der in irgendeiner Form geeignet sein kann die Bestehung irgendeiner sonstigen Tatsache wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher zu machen, die Bedeutung bei der Entscheidung im Prozess haben kann.

Regel Nr. 402. – Der relevante Beweis ist im allgemeinen zulässig; der irrelevante Beweis ist unzulässig

Jeder relevante Beweis ist zulässig, ausgenommen, wenn die Verfassung der Vereinigten Staaten, das Gesetz des Kongresses, diese Regeln oder die vom Obersten Gerichtshof aufgrund gesetzlicher Legitimation geschaffenen sonstigen Regeln anderswie verfügen. Der nicht relevante Beweis ist nicht zulässig.

[9] Bernard Robertson, G A Vignaux: Interpreting Evidence: Evaluating Forensic Science in the Courtroom,
John Wiley and Sons, 1995, in: http://www.mcs.vuw.ac.nz/~vignaux/evidence/interpreting.html, pp. 11.

[10] Bernard Robertson, G A Vignaux: Interpreting Evidence: Evaluating Forensic Science in the Courtroom,

John Wiley and Sons, 1995, in: http://www.mcs.vuw.ac.nz/~vignaux/evidence/interpreting.html, pp. 13.

Verstehe: eins zu neunhundertneunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzig

[11] Aufgrund dessen ist die a priori Chance 1/1.000.000, dass der Beschuldigte der Täter ist, und die Chance ist 999.999/1.000.000, dass nicht der Beschuldigte der Täter ist.

[12] 0,01245/(0,01245+1)=0,1230

[13] Verstehe: eins zu vier

[14] O (G)= P (G) / P (nicht-G) = 1 / 4 = 0,25

[15] 3112,5/(3112,5+1)=0,99968 Þ 99,968 %

[16] Ralf Neuhaus: Kriminaltechnik für den Strafverteidiger – Eine Einführung in die Grundlagen 2. Teil Befundbewertung, in: Strafverteidiger Forum, 2001/4. Quelle: http://www.ag-strafrecht.de/aufsatzneuhaus.htm

[17] 3,84615/(3,84615+1)=79,36 %

[18] Encyclopedia of Forensic Sciences (Editoren: Jay A. Siegel, Pekka J. Saukko, Geoffrey C. Knupfer), Academic Press 2000, New York, pp . 718.

[19] Tremmel Flórián: Magyar büntetőeljárás [Ungarisches Strafverfahren], Dialóg-Campus Kiadó, Budapest-Pécs, 2001, pp. 213.

[20] Siehe z. B.: Angabe der a priori Chance